Hallo,
wenn die jungen Menschen zu mir kommen (durch das Schulsystem gelaufen sind und jetzt eine Ausbildung der nächste Schritt ist) und dann doch erhebliche Förderbedarfe (ja, Förderbedarfe - keine "Defizite"- Defizitorientierung ist schwarze Pädagogik – bei „Föderbedarfen“ gibt es gedanklich eine positive Orientierung) aufweisen, frage ich immer danach, wie bei ihnen Mathe unterrichtet wurde – in der Grundschule, in den Klassen 5 und 6, in den Sekundärklassen.
- Anschauungsmaterial in den unteren Klassen? Etwas in die Hand nehmen, abzählen, anschaulich ein Gefühl für Größen, Mengen und Operationen entwickeln? Ja oder Nein?
Wenn nicht, haben sehr, sehr viele der jungen Menschen, die ich betreue, keinerlei Idee von der realen Anwendung von dem, was sie nur als „Mathe“ kennengelernt haben. (Die allermeisten von ihnen haben einen Hauptschul- oder Realschulabschluss).
Zahlen und Operationszeichen sind für sie völlig abstrakte „Geheimzeichen“, die sie nicht durchschauen. Sie haben nie haptisch gesehen, angefasst oder erfasst, was das mit dem „Plus“, „Minus“, „Mal“, „Geteilt“ eigentlich bedeutet. – Und da genau fängt es an. Wenn die Ideen der Grundrechenarten nur abstrakt und nicht haptisch vermittelt werden, steigen sehr viele junge Menschen schnell aus.
Einigen von ihnen wird dann später in ihrer Schullaufbahn eine „Diskalkulie“ bescheinigt und alle haben dann ein Stigma, auf dem sich sowohl die Lehrer_innen als auch jungen Menschen fein ausruhen können. – Eine ach so wissenschaftlich nachgewiesene „Diskalkulie“, dann ist ja alles klar und niemand muss sich seiner Didaktik und Lehrmethode unsicher sein, oder?
Und auf der anderen Seite können sich die jungen Menschen die Diagnose nutzen, um sich vor eigenen Anstrengungen herauszureden. Sie können „das eh’ nie lernen“. Sie haben ja „Diskalkulie“.
Ich kann dann dem Spruch: „Mathe ist ein Arschloch“ zustimmen. – Mathe ist ein Arschloch, wenn man nie irgendeine Vorstellung der realen Vorgänge hinter den Operationen und Zahlen vermittelt bekommen hat. Ich hatte zum Glück Lehrkräfte in der Grundschule, die uns doch tatsächlich mit Hilfe von Anschauungsmaterial Vorstellungen vermittelt hatten und das in der miefigsten 70er-Jahre Provinz auf einer Dorfschule mit zwei Lehrkräften für vier Jahrgänge.
Vor einigen Jahren bin ich auf die Suche nach diesem Material (u. a. Würfelmaterial zum Zehner-System) gegangen und habe dabei u. a. das Montessori-Material gefunden. Erstaunt stellte ich fest, dass nicht nur mein/e damalige Grundschullehrer/in ähnliche Materialien verwendeten sondern dass sogar im Dorfkindergarten mit Original-Montessori-Material gearbeitet wurde.
Ein paar Sachen (keine Original-Montessori-Materialien) hatte ich damals bestellt, da ich zu der Zeit Mathe in den Vorbereitungskursen für den externen Hauptschulabschluss unterrichtete. Kurz darauf änderte sich mein Aufgabengebiet für ein paar Jahre. Ich hatte keinen „Unterricht“ in den berufsvorbereitenden Gruppen mehr, sondern war vor allem administrativ (und mit Leitung von Projekten) eingesetzt. Allein bei zwei Kleingruppen zur Lernbegleitung in der Ausbildung war ich noch „im Fronteinsatz“ und da liegen die Schwerpunkte in aller Regel etwas anders (besonders im 2. und 3. Ausbildungsjahr).
Vor einigen Monaten hat sich mein Aufgabengebiet wieder geändert und ich bin wieder in meiner Lieblingsrolle als „Lerncoach“ – wie ich es nenne – sowohl in den Ausbildungsprojekten als auch teilweise wieder in den Kursen, die der Ausbildung vorgeschaltet sind. Ich unterrichte wieder „Mathe“ und habe wieder die Zeit und Möglichkeit, sinnvolles Material zu sichten, zu kreieren, zu basteln und entsprechende Selbstlernaufgaben oder Selbstlernanleitungen dazu zu schreiben.
Mein Ziel ist, eine „Mathewerkstatt“ aufzubauen, in der ich vormittags junge Menschen aus unseren Vollzeitprojekten, individuell und nach ihren Bedarfen fördern kann. Ich hoffe, dass ich auch andere Kolleg_innen dafür begeistern kann, ihren „Unterricht“ ähnlich zu gestalten.
Bisher habe ich für die Auszubildenden einige Lernspiele gebastelt. Zu den meisten Themen hatte ich aber gekaufte Vorlagen. Ein paar Dinge habe ich mir selbst ausgedacht.
Für Mathe habe ich einiges von Material gekauft oder frei verfügbares aus dem Netz BUNT ausgedruckt und laminiert.
Außerdem habe ich selbst kreiert, gebastelt und geschrieben:
- aktuell über 20 Stationenkarten und Material zu unterschiedlichen Themen, die beim externen HSA abgeprüft werden können, für Lernzirkel immer bunt mit Fotos und fast immer mit haptischem Material.
• Flächenberechnung (verschiedene Stationen mit unterschiedlichen Aktivitäten)
• Körperberechnung Quader, Würfel und Zylinder (ebenfalls verschiedene Stationen)
• Vierecke – Beschreibung – Eigenschaften
• Dreiecke – Beschreibung – Eigenschaften
• Dreiecke konstruieren
• Bruchrechnen
• Quadratzahlen
• Kubikzahlen
• Dreisatz
• Währungsrechnen
Einen entsprechenden Lernzirkel zum Prozentrechnen hatte ich vorher gekauft (AOL-Verlag) und die neuen Karten an die Optik angepasst.
- aktuell vier „Selbstlernprogramme“, mit denen sich die Lernenden die Regeln und Zusammenhänge selbst erarbeiten können (nicht interaktiv, sondern Schritt-für-Schritt- Anleitungen auf Papier mit Hilfe von haptischen Material)
• Flächenberechnung Vierecke (Material: gelbe Flächen – Montessori-Material + zusätzlich Trapez) – kann ich nicht sozialisieren, da ich die meisten Ideen abgeguckt habe
• Rechengesetze, Quadrieren, Polynome (aktuell nur Binomische Formeln weitere Polynome 2. Grades sind geplant) (Material: Dekanome 1 und 2 sowie Zahlenstäbe nach Montessori (eigentlich buntes Perlenmaterial aber ich benutze ausgedruckte laminierte Kärtchen und Stäbchen)
• Bruchrechnen (Material: Bruchkreise aus Kunststoff – habe ich bei Betzold bestellt – oder, farbig ausgedruckte + laminierte Bruchkreise aus dem Internet – suchen und färben.)
• Strahlensätze (Material: bunte Winkelschienen – habe ich bei Betzold bestellt.)
Für eine Reihe von Material habe ich noch keine konkreten Aufgaben oder schriftlichen Anleitungen, aber da arbeite ich dran. Z. B. Quadratmetermodell (100 einzelne Quadratdezimeter in zwei verschiedenen Farben – ein Quadrat davon aus Millimeterpapier), Kubikmetermodell (gekauft), laminierte Modelle zum Satz des Pythagoras usw. – Ich bleib dran.
Dass die Arbeit mit diesen Materialen erfolgreich ist, konnte ich in den letzten Wochen live beobachten, als ich sie entweder in Lernzirkeln in den Gruppen, binnendifferenziert im Unterricht oder in Einzelsitzungen mit jungen Menschen einsetzte.
Ein paar O-Töne der jungen Menschen:
• „Ich weiß, was Ihre Idee ist. Wir spielen und lernen nebenbei Mathe.“ (Yes!)
• „Frau X, das ist ja immer Schritt für Schritt und ganz einfach. Ich verstehe es jetzt! (So, war es gedacht!)
• „ Ach so! Jetzt verstehe ich das mit den Quadratzahlen.“ (Genau, oft muss man es auch erstmal praktisch sehen, um es zu verstehen.)
• (Wir hatten die Winkelschienen als Material zum Anfassen) Lernender: „Darf ich das Dreieck auch drehen“ Antwort von mir „Ja, klar. Drehen Sie es bis Sie den rechten Winkel sehen können.“ Lernender: „Ach so, jetzt sehe ich ihn auch. Ich dachte, die Ecke müsste immer oben sein und da kann ich das nicht so gut erkennen.) (Sic! Ich muss da manchmal auch genau hinschauen.)
Ergebnis: Alle jungen Leute, die den externen HSA anstrebten, haben heute ihre letzten Prüfungen bestanden – und keiner hat eine fünf in Mathe! (Ich habe außerhalb des regulären Unterrichts Förderung in Kleingruppen sowie Einzeltermine angeboten, die von einigen genutzt wurden.)
Ich verfolge meine Linie weiter
VG
Menimane
Übrigens finde ich die Forenoptionen hier ziemlich unübersichtlich. Ich sehe z. B. hier nicht den Eintrag, auf den ich antworte oder das Gespräch. Ich würde den User eigentlich gerne persönlich ansprechen.
Was habe ich übersehen?