Gerade bei uns am Gymnasium versuche ich meinen Schülern zu vermitteln, dass es in den meisten Fällen keinen eindeutig vorgezeichneten Lösungsweg zu einer Aufgabe gibt, sondern dass die Mathematik von der Kreativität lebt, eigene Wege zur Lösung eines Problems zu finden. Dazu gehört auch, dass man lernt, selbst zu entscheiden, wie man eine solche Konstruktion aufbaut, durchführt und beschriftet. Grundsätzlich gebe ich dafür die Regel aus, dass alles, was ich für meine Lösung verwende, auch beschriftet werden muss, damit der Lösungsweg nachvollziehbar wird - als Hinführung zur späteren Beweis-Methodik. Sind also die Eckpunkte meiner Figur nicht wichtig für die Konstruktionsbeschreibung, müssen sie nicht zwingend beschriftet werden. Anstelle von "Kante [AB]" kann ich die Kante ja auch mit "a" beschriften.
Das Lernen nach "Kochrezepten" und Automatismen läuft dieser Zielrichtung entgegen, da durch diese die Kreativität massiv ausgebremst wird. Die Schüler verlernen das eigenständige Denken und halten sich nur an ihre dogmatischen Regeln. Aufgaben, die nur ein wenig außerhalb dieses starren Systems liegen, können dann nur schlecht oder gar nicht bearbeitet werden.
Natürlich gehört ein gewisser festgelegter Formalismus zur Mathematik, den man sich auch angewöhnen bzw. wie eine Fremdsprache lernen sollte. Dieser Formalismus gibt mir aber nur vor, wie ich etwas ausdrücken muss, damit Mathematiker mich verstehen. Er schreibt mir aber nicht vor, was ich alles zu sagen, zu beschreiben oder zu beschriften habe, solange meine Lösung vollständig ist.
Schwächere Schüler profitieren auch klar von starren Regelsystemen, "Kochrezepten" und Formalismen, da sie ihnen die Sicherheit geben, einfache Aufgaben zu lösen. Mit Mathematik hat das aber nicht viel zu tun, also müssen wir aufpassen, die stärkeren Schüler dadurch nicht zu sehr einzuengen.
Als kleines Negativbeispiel möchte ich den Fall des Mathematiklehrers nennen, von dem mir meine Mutter früher immer erzählt hat. Er verlangte, dass hinter jede Gleichung ein Punkt gehört, ansonsten galt sie als falsch. Er setzte also diesen willkürlichen Formalismus über die Richtigkeit einer Lösung und führte damit die komplette Aufgabe ad absurdum. Das ist natürlich Jahrzehnte her, zeigt aber deutlich, wie weit die Gläubigkeit an Formalismen und starre Vorgaben führen kann.