die Diskussion noch einmal auf die Metaebene holen, bevor ich ein letztes Mal auf deine teils sinnvollen, teils haarsträubenden Thesen eingehe.
Wenn man von "verarschen" spricht, dann ist damit gemeint, dass jemand wider besseres Wissen falsche Behauptungen aufstellt, um damit einen Vorteil für sich zu erlangen, zum Nachteil des "Verarschten". Damit unterstellst du dem RKI und der Regierung, dass sie bessere Zahlen haben, aber eine geheime Agenda verfolgen, die ihnen nützen und uns schaden soll. Das ist eine ungeheuerliche Behauptung, die gerne von Verschwörungserzählern verwendet wird, und durch nichts belegt ist.
Gleichzeitig hast du Kampfbegriffe einer Szene verwendet, die für ihre Menschenfeindlichkeit und ihren Hass auf Wissenschaftler und Politiker bekannt ist. Damit rückst du dich automatisch in die Nähe dieser Menschen- und Demokratiefeinde, ob dir das gefällt oder nicht. Inzwischen hast du dich ja zum Glück von dieser Szene distanziert und auch deine Ausdrucksweise etwas gemäßigt.
Jetzt nochmal zu deinen Argumenten:
Das eingangs von dir zitierte Strategiepapier des Innenministeriums habe ich inzwischen sehr aufmerksam gelesen (hatte ich vorher zugegebenermaßen nur überflogen) und bin erstaunt, wie weitsichtig dieses Ministerium unter einem Bundesinnenminister, der vor allem für seine dumpfbackigen Trotzreaktionen und sein Aussitzen von Krisen bekannt ist, in dieser Krise agiert. Es werden verschiedene Szenarien ausgearbeitet, darunter natürlich auch das "worst case" Szenario. Dass dann in der Kommunikationsstrategie auch dieses Szenario vorkommt, ist nur folgerichtig. Es wird allerdings nicht gesagt (wie du behauptest), dass man in der Kommunikation das Worst Case Szenario bis ins Extrem hinein aufbauschen soll, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und zu "verarschen" (wieder deine nicht belegte Behauptung), sondern es wird im Gegenteil explizit genannt, dass man es für unverantwortlich halten würde, wenn man dieses Worst Case Szenario verheimlicht. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Papiers herrschte in Teilen der Bevölkerung eine Meinung vor, dass das Virus ja total harmlos sei und nur die Uralten und eh schon halb Toten treffen würde. Dass dies auch ganz anders laufen könnte, musste man der Bevölkerung klar machen - ansonsten hätten alle Maßnahmen keinen Erfolg gehabt, weil sich 90% der Bevölkerung schlicht und einfach geweigert hätten, da mitzumachen. Und selbst du scheinst ja der Ansicht zu sein, dass die Regeln zum Abstandhalten nicht die Schlechtesten sind.
Wenn ich der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen erklären will, muss ich auch erklären, wovor ich sie beschützen will. Und dazu gehört auch ein Worst Case Szenario: Wenn wir gar nichts tun, werden die Leichen auf der Straße liegen wie in Ecuador, werden Ärzte massenhaft triagieren müssen wie in Italien und wird unsere Wirtschaft deutlich mehr einbrechen als wir uns das jemals vorstellen könnten. Und davor wollen wir Deutschland schützen, also müssen wir schnell und konsequent handeln.
Das ist für mich kein "Verarschen", sondern die Pflicht einer jeden Regierung, genau so überlegt zu handeln und so erstaunlich ehrlich zu kommunizieren. Ich hatte damals etwas ganz Anderes erwartet - wenn man die Kommunikation der Regierung zum Klimawandel betrachtet sieht man da im Wesentlichen Verharmlosung, Verunglimpfung von Experten, Verunglimpfung von kritischen Demonstranten, Missachtung von jahrzehntelang immer wieder bestätigten und stets neu übertroffenen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Maßnahmen"pakete", die man auch gut als Postkarte verschicken könnte, vor allem, weil sie von Maßnahmen begleitet wurden, die ihre Wirkung mehr als nur aufheben. In der aktuellen Krise hätte das ein Vorgehen bedeutet, wie wir es zur Zeit in den USA beobachten müssen. Ich bin heilfroh, dass es diesmal anders gelaufen ist, vielleicht weil viele hochrangige Entscheider in unserem Staat aufgrund ihres Alters selbst zur Risikogruppe zählen und schlicht und einfach nackte Todesangst hatten. Die Folgen des Klimawandels dagegen werden sie nicht mehr erleben, darum ist dieser für sie eher irrelevant. Das ist aber nur eine Vermutung von mir, die ich nicht belegen kann.
Jetzt noch einmal zu den "ständig wechselnden" Zahlen des RKI. Ich halte das nach wie vor für kein "Verarschen", sondern für ganz normales und wissenschaftlich einwandfreies Verhalten. Wenn ich als Wissenschaftler merke, dass meine Modelle die Wirklichkeit nicht gut genug abbilden, muss ich meine Modelle anpassen. Wenn ich merke, dass meine Berechnungen nicht ganz richtig waren, muss ich die Ursache dafür herausfinden und die Rechnungen richtig stellen. Trotzdem ist das RKI als zuständige Behörde dazu verpflichtet, auf Basis der aktuellen Berechnungen die Bevölkerung und die Regierung zu informieren. Dass man dann manchmal zurückrudern muss ist im wissenschaftlichen Betrieb etwas ganz Normales - Erkenntnisse sind nie absolut. Wer hätte vor 1905 gedacht, dass Zeit nicht absolut ist sondern vom Bewegungszustand abhängt? Wer hätte vor 1870 gedacht, dass man die "weibliche Hysterie" nicht durch operative Entfernung der Gebärmutter behandeln muss, weil sie eine erfundene Krankheit war?
Dass sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse derzeit so schnell entwickeln liegt zum einen an der Tatsache, dass wir zu Beginn noch gar nichts über das Virus wussten - es war ja erst vor Kurzem überhaupt erst entdeckt worden - und zum Anderen, dass jetzt überall mit Hochdruck daran geforscht wird. Dass dabei auch so mancher Schnellschuss publiziert wird, der sich später als falsch herausstellt, ist wissenschaftsethisch problematisch, aber dem hohen Erwartungsdruck von Politik und Bevölkerung geschuldet, die jetzt "endlich mal was wissen wollen, macht ihr in euren Laboren denn gar nichts? Kommt mal in die Pötte, wir wollen jetzt sofort Sicherheiten, keine vagen Theorien!". Dass die Wissenschaft diese Erwartungen nicht erfüllen kann, wird ignoriert, stattdessen kommen jetzt Leute wie du daher und beschimpfen die Wissenschaftler auch noch. Dabei brauchen halbwegs gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse Jahre bis Jahrzehnte, in denen sie einem kontinuierlichen Reifungsprozess einander widersprechender Messungen, angepasster Methodik, Verifizierung, Falsifizierung und umfangreicher Diskussion unterliegen. Wer glaubt, man macht da halt mal ne Messung und dann ist alles klar, der macht nur deutlich, dass er von der Wissenschaft und ihren bewährten Methoden überhaupt gar nichts begriffen hat.
Zur Abkehr von der Verdopplungszahl habe ich bereits geschrieben, dass sie in einer Zeit, in der wir zum Glück kein exponentielles Wachstum mehr haben, keinen Sinn mehr macht. Dass die Zahl R nie ganz sicher berechnet werden kann und gerade bei kleinen Fallzahlen auch einer nicht unerheblichen statistischen Schwankung unterworfen ist, wird auch vom RKI ehrlich so kommuniziert. Ansonsten hätten wir ja längst wieder eine Rückkehr in die harten Maßnahmen (die im internationalen Vergleich übrigens nicht wirklich hart waren, eher so eine Art "Ausgangsbeschränkung light") erlebt statt weiterer, teils dramatischer, Lockerungen der Maßnahmen. Dass jetzt trotzdem nicht sofort wieder zum Alltag übergegangen wird hat damit zu tun, dass das Virus so heimtückisch agiert, dass wir die Wirkung von einer Änderung der Maßnahmen immer erst 10-14 Tage später spüren können - so lange agieren die Neuinfektionen unter dem Radar. Dass jetzt die Lockerungen in einem schnelleren Takt erfolgen halte ich persönlich für problematisch - das ist für mich wie eine Fahrt im dichten Nebel mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit.
Dabei kommen wir gleich zu deiner nicht belegten Theorie, dass sich dieses Virus frühestens im Herbst zu einer neuen Welle aufmachen wird, wenn überhaupt. Gerade für dieses Virus ist bereits bekannt, dass es sich auch von sommerlichen Temperaturen nicht besonders beeindrucken lässt, während Influenza da z.B. Ruhe gibt. Überhaupt halte ich den Vergleich mit der Influenza für gefährlich, weil zum einen dadurch versucht wird, die Influenza als harmlose Krankheit darzustellen (was sie nicht ist), zum anderen stets ignoriert wird, dass wir für die Influenza eine meist sehr gut wirksame Impfung haben und zusätzlich Medikamente, die Erkrankte heilen können. Beides haben wir für das neue Coronavirus noch nicht, warum wird dann ständig davon ausgegangen, dass wir es genauso zähmen können? Abgesehen davon sind Corona- und Influenzaviren von unterschiedlicher Natur, auch wenn sie teilweise ähnliche Symptome und Krankheitsbilder hervorrufen. Warum müssen sie sich dann gleich verhalten? Die Influenza erforschen wir seit Jahrzehnten, über ihre Spätwirkungen ist so gut wie alles bekannt. Beim Coronavirus wissen wir noch so gut wie nichts über Spätwirkungen, es gibt nur ein paar anekdotische Berichte über extreme Auswirkungen wie den Befall des Gehirns mit daraus resultierender Blindheit. In einigen Jahren wissen wir mehr, bis dahin müssen wir auch hier erst einmal den Worst Case annehmen, dass sich diese extremen Spätfolgen häufen könnten. Woher also nimmst du diese Sicherheit, dass schon nichts schiefgehen wird, weil das Virus jetzt brav in der Ecke bleibt, bis ein Impfstoff gefunden ist? Auch wenn wir jetzt täglich nur noch etwa 1000 Neuinfektionen haben (bzw. vor 14 Tagen hatten, die Zahlen sind ja per se veraltet), bedeutet das, dass die Gesundheitsämter alle Kontakte dieser neu Infizierten in den letzten 14 Tagen nachverfolgen müssen - also täglich ca. 50-100.000 Menschen oder mehr kontaktieren müssen, Fragen stellen müssen, und wiederholte Tests veranlassen müssen.
Solange wir keine gesicherten Erkenntnisse haben - und die dauern Jahre - müssen wir damit leben, dass sich Wissenschaftler teilweise extrem widersprechen. Sich dann das positivste Extrem herauszusuchen und alles Andere zu diskreditieren ist zwar eine bequeme, aber unethische Vorgehensweise, siehe USA und ihr Twitler (tut mir leid, aber ich liebe diesen Begriff für den PotUS, er vereint so herrlich die Begriffe twit, Twitter und Möchtegern-Hitler). Als verantwortlicher Entscheider hat man daher die unbequeme Aufgabe, in Entscheidungen alle bisherigen Erkenntnisse mit einzubeziehen, von extrem positiven bis hin zu extrem negativen. Daraus Handlungsanweisungen abzuleiten ist alles Andere als einfach. Handelt man zu streng, revoltiert die Bevölkerung. Handelt man zu lasch, könnte das gewaltigst in die Hose gehen, mit Hunderttausenden Toten - will und kann man das verantworten?
Ich schlage den Bogen zurück zum eingangs zitierten Strategiepapier des Innenministeriums. Im Gegensatz zum neulich missbräuchlich zirkulierten Thesenpapier eines irrlichternden einzelnen Mitarbeiters geht dieses ganz konkret auf die verschiedenen Szenarien und ihre jeweiligen Risiken ein, bewertet diese sachlich und kommt zu logischen Schlüssen auf Basis der damaligen sehr dürftigen Erkenntnissem, die in der Zwischenzeit nicht viel besser geworden sind.
Ich hoffe inständig, dass du Recht behalten wirst und keine zweite Welle kommt. Die immer weiter zurückgehenden Fallzahlen lassen die Hoffnung dafür keimen, aber jeder Keimling ist empfindlich. Wir fahren weiterhin im Nebel, unser Wissen über die Entwicklung ist immer 10 bis 14 Tage alt. Sollte es wieder zu einer exponentiellen Entwicklung kommen wie am Anfang, wäre das gefährlich, denn 14 Tage sind ein erschreckend langer Zeitraum und die Exponentialfunktion ist grausam. Ich habe daher die Befürchtung, dass es anders kommen wird, wenn wir nicht ganz gewaltig aufpassen und bei den Lockerungen etwas vorsichtiger werden. Denn wenn der Wort Case eintreten sollte (und es gibt keine Sicherheit dagegen), dann werden die Auswirkungen auf Wirtschaft und Bevölkerung weitaus drastischer sein, als das momentan der Fall ist. Zur Zeit können wir etwas aufatmen - aber wir müssen höchst wachsam bleiben. Dieser Meinung scheinst du ja immerhin auch zu sein. Das gilt aber längst nicht für alle, wenn man einige Schüler oder so manches Rollatorgeschwader auf dem Marktplatz beobachtet...